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Gast-Kommentar
Kanton SG
20.09.2023
22.09.2023 17:56 Uhr

Franziska Cavelti Häller kommentiert die Herbstsession für Wil24

Bild: wil24.ch
Vom 18. bis 20. September trafen sich die Mitglieder des St.Galler Kantonsrats zur sogenannten Herbstsession. Was beschäftigte Parlament und Regierung und was wurde an diesen drei Tagen entschieden? Kantonsrätin Franziska Cavelti Häller, Jonschwil, erläuterte tagesaktuell das Wichtigste aus ihrer Sicht.

Der 3. Sessionstag - 20. September 2023: Zankapfel Verkehr

Der dritte Sessionstag steht ganz im Zeichen von Strassen und Verkehr. Im 7. ÖV-Programm sind in verschiedenen Regionen des Kantons Angebotsverbesserungen von rund 400 Millionen vorgesehen. Deshalb ist das Programm von links bis rechts unbestritten. Grosses Gewicht wird insbesondere auf den Ausbau des Vollknotens St. Gallen gelegt. Beat Tinner hat versichert, dass der Kontakt diesbezüglich über die st. gallischen Bundesparlamentarier bereits hergestellt und das Anliegen der Ostschweiz in Bern angekommen ist. Zudem soll aufgrund der chronischen Verspätung des Euro-Citys München-Zürich eine Entflechtung mit dem Taktfahrplan stattfinden. Unzufriedenheit löst die Tatsache aus, dass der Ausbau der Agglomerationsprogramme verspätet ist und dadurch bereitgestellte Bundesgelder gefährdet sein könnten.

Grosse Diskussionen hat jedoch das 18. Strassenbauprogramm ausgelöst und zu einer Flut von Anträgen geführt. Das Strassenbauprogramm enthält nicht nur den unbestrittenen Unterhalt der bestehenden Strassen, sondern beinhaltet eben auch neue Strassenprojekte wie die Engpassbeseitigung in St. Gallen, welche vom Stadtparlament aus dem Richtplan gestrichen wurde, oder die Autobahnanschlüsse Wil-West und Rorschach, die Netzergänzung Nord in Wil oder den Umfahrungstunnel in Rapperswil-Jona. Exemplarisch erwähnt sei hier die Diskussion über die Engpassbeseitigung in St. Gallen. Die Grünen stellen nicht ganz unberechtigt die Frage, ob es sinnvoll sei, für über eine Milliarde Schweizerfranken einen Zubringer ins Appenzellerland zu bauen, wenn wir den kürzlich fertiggestellten Ruckhaldentunnel für die Bahnstrecke St. Gallen-Appenzell für 40 Millionen Franken gebaut haben. Zudem wird die Verkehrsentlastung von den Gegnern vehement bestritten; sie warnen vor Mehrverkehr, der insbesondere im Zentrum der Stadt St.Gallen zum Verkehrskollaps führe. Die Befürworter argumentieren genau umgekehrt und warnen vor einem Verkehrskollaps, sollte das Projekt Güterbahnhof mit Liebeggtunnel nicht realisiert werden. Sie versprechen sich eine deutliche Verkehrsentlastung für ganze Quartiere. Tatsache bleibt, dass zusätzliche Strassen zusätzlichen Verkehr anziehen und damit die breit abgestützten Verlagerungsziele kaum erreicht werden können. Aufgrund der Mehrheitsverhältnisse bleibt die Engpassbeseitigung im 18. Strassenbauprogramm. So oder so - eine Abstimmung in St. Gallen wird zeigen, wie die Bevölkerung denkt.

Des Weiteren werden 12 Anträge behandelt. Auch hier sei exemplarisch die Endlosdiskussion über die Realisation von Busbuchten erwähnt. Der Rat hält an seinem Entscheid fest, dass neue Haltestellen als Busbuchten zu konzipieren sind. Die Ratsmehrheit nimmt damit in Kauf, dass in vielen Fällen Grundeigentümer enteignet werden, um genügend Platz für Busbuchten zu erhalten. Die Ratsmehrheit beschliesst zudem faktisch ein Verbot von Tempo 30 auf verkehrsorientierten Strassen und greift damit in hohem Masse in die Gemeindeautonomie ein und verhindert damit pragmatische und kostengünstige Lösungen für lärmgeplante Anwohnende. Freie Fahrt für freie Bürger!

Die Autodebatte dauert tatsächlich bis 15.20 h. Der Kanton scheint keine anderen Probleme zu kennen.

Die Herbstsession ist zu Ende. Im November steht das Budget 2024 zur Debatte.

Der 2. Sessionstag – 19. September 2023: Die Berufsbildung im Zentrum

Gleich zu Beginn startete der Rat mit einem Schwerpunkt dieser Session, der Immobilienstrategie der Sek II, d.h. die Bedarfsplanung insbesondere für die Berufsbildung. Mehr als 80 Prozent der Jugendlichen absolvieren eine Lehre über den dualen Bildungsweg. Somit wurde dieser Bericht mit hoher Dringlichkeit erwartet, sollte er doch wichtige Grundlagen liefern für die Weiterentwicklung der Berufsbildung. Die im Bericht aufgezeigte Stossrichtung ist unbestritten. Die Bildung von Campus mit flexibler Lernumgebung und die Bündelung von Fachrichtungen zu Kompetenzzentren, um sinnvolle Klassen- und Ausbildungseinheiten zu bilden, ist richtig und findet breite Unterstützung. Der Bericht verliert sich jedoch in «Klein-Klein», zählt akribisch Schulzimmer und Informatikzimmer, errechnet Belegungszahlen und verschiebt wie auf einem Reisbrett ganze Berufsfelder an andere Standorte. Man erhält den Eindruck, dass der Bericht nur das Ziel hatte, Miet- und Unterhaltskosten zu sparen und nicht optimale Infrastruktur und Lernbedingungen zur Verfügung zu stellen. Der Bericht fiel deshalb bei der Ratsmehrheit durch und im Bericht aufgezeigten Optionen werden nicht weiterverfolgt. Ein Scherbenhaufen! Als Weg aus der Sackgasse beschloss der Rat folgendes:

  • Der Kanton braucht eine Berufsbildungsstrategie als Basis für die Immobilienplanung.
  • Als neues strategisches Organ soll ein strategischer Berufsbildungsrat, bestehend aus den relevanten Anspruchsgruppen, installiert werden.
  • Entscheidungsreife bauliche Sanierungen sowie planungsfertige Campuslösungen sollen umgesetzt werden, auch wenn die Berufsbildungsstrategie noch nicht ausgearbeitet wurde. Die Berufsbildung soll kein Moratorium erfahren.

Musste der Bildungschef bei der Berufsbildung viel Kritik einstecken, konnte er beim Zwischenbericht zur IT-Bildungsoffensive viel Lob entgegennehmen. Die IT-Bildungsoffensive ist auf acht Jahre befristet und mit 75 Mio. CHF vom Kanton und 15 Mio. CHF von der Wirtschaft gut dotiert. Die Modellschulen als Pilotprojekte sind erfolgreich gestartet und werden eng begleitet. Die Erfahrungen fliessen in die Weiterentwicklung der Informatikbildung ein. Entscheidend für den Erfolg der «Digitalen Schule» wird aber sein, wie die Pilotprojekte später in allen Schulzimmern des Kantons umgesetzt werden können.

Die Lernplattform «apprendo» ist ein Weiterbildungsangebot zur Stärkung der digitalen Kompetenz von Lehrpersonen. Je nach Fachbereich sind vielfältige Einsatzgebiete denkbar: Das Lösen von mathematischen Aufgaben, aber auch das Erstellen von Schnittmustern für textiles Werken. Der Aufwand ist nicht nur für Lehrkräfte beträchtlich. Auch die Weiterentwicklung und Ergänzung weiterer Module ist aufwändig. Zudem ergeben sich laufend neue Bedürfnisse, wie z.B. der Umgang mit ChatGPT. Die vorberatende Kommission schlägt deshalb vor, die Eigentumsverhältnisse der Lernplattform zu klären, sowie die Beteiligung und Mitfinanzierung interessierter Kantone zu prüfen. Ein interessanter Vorschlag, der breite Unterstützung findet.

In einem engagierten Votum weist Judith Durot, Kantonsrätin der Grünen aus Uzwil, auf die (Sucht-) Gefahren der Digitalisierung hin. Die Risiken reichen von Einschlafstörungen über Sprachentwicklungsschwierigkeiten bei Kleinkindern bis zu Konzentrationsschwäche im Primarschulalter. Judith Durot gibt zu bedenken, dass Kinder über die Beziehung zu Menschen lernen und nicht über Bildschirme. Deshalb gelte es, die vielfältigen digitalen Lernmöglichkeiten mit Augenmass einzusetzen. Dieses wichtige Votum wurde von weiten Teilen des Rates mit grosser Zustimmung aufgenommen.

Eine aussergewöhnliche Situation ergab sich bei der Motion, die eine Revision des Stipendiengesetzes verlangte. Der Kanton St. Gallen ist bekanntlich besonders knauserig gegenüber weniger begüterten Studierenden. Die Motion wurde OHNE Diskussion mit 91 Ja-Stimmen und einer Enthaltung angenommen. Ein seltenes Ereignis!

Kurz vor dem traditionellen Fraktionsausflug wird eine Motion der SVP behandelt. Diese wollte die Sozialhilfe künftig nur noch bargeldlos auszahlen, um zu verhindern, dass das Geld in die Herkunftsländer von Personen aus dem Asylbereich fliesst. Die Emotionen kochten hoch - eine sachliche Auseinandersetzung mit Themen aus dem Ausländerbereich scheint kaum mehr möglich. Die Motion wurde als untaugliches Mittel abgelehnt. Es ist Wahlkampf!

Der 1. Sessionstag - 18. September 2023: Die Geschäfte stauen sich

Die Septembersession beginnt traditionsgemäss für bildungsinteressierte Kantonrätinnen und Kantonsräte mit einem Frühstück beim Kantonalen Lehrerverband. Bei Kaffee und Gipfeli werden aktuelle Themen rund um die Bildungslandschaft diskutiert. Lehrpersonenmangel und die von Bildungschef Stefan Kölliker lancierten Ideen, zwei Wochen Ferien zu kürzen und im Gegenzug die Unterrichtszeit von 08.00 bis 13.00 Uhr zu beschränken, werden mit gemischten Gefühlen beurteilt. Dafür wirbt das Präsidium des KLV mit der Verbesserung der Lohnsituation und bittet den Kantonsrat bereits heute, diesmal zum Erhalt der Kaufkraft, den vollen Teuerungsausgleich für alle Kantonsangestellten zu gewähren. Somit ist die Diskussion ums Budget 2024 im November bereits lanciert.

Bekanntlich hat die Ratsmehrheit die Aprilsession abgeschafft. Dies hat zur Folge, dass der Rat nahezu 100 Geschäfte monatelang vor sich herschiebt. Insbesondere die zahlreichen Interpellationen sind teilweise über ein Jahr alt, einige stammen sogar von 2021. Jede auch noch so kleine Reform des Ratsbetriebes wurde an der letzten Session jedoch abgelehnt. So hat das Präsidium tatsächlich entschieden, dass alle Interpellantinnen und Interpellanten angeschrieben wurden, ob sie auf ein Votum zu ihrem Vorstoss verzichten würden, um Zeit einzusparen. Der Erfolg ist überschaubar. Ist dieses Vorgehen eines kantonalen Parlamentes würdig? Bereits heute, am ersten Sessionstag, wurden 13 (!) Interpellationen eingereicht, sieben davon mit hoher Dringlichkeit. So viel zur Selbstbeschränkung des Parlamentes. Die bevorstehenden Wahlen werfen seine Schatten.

Am Nachmittag wurden vor allem Vorstösse aus dem Sicherheits-und Justizdepartementes behandelt:
- Vor ca. zwei Jahren leitete das weltweit tätige Verpackungsunternehmen Amcor tonnenweise giftigen Löschschaum in den Bodensee. Auf eine Strafuntersuchung wurde verzichtet. So greift das übergeordnete Verwaltungsstrafrecht, welches eine maximale Busse von CHF 5000 vorsieht. Dies ist angesichts des grossen angerichteten Schadens nahezu eine lächerlich kleine Summe. Das Standesbegehren, welches die Regierung unterstützt, sieht eine Busse bis 50'000 Franken vor. Ein ordentliches Strafverfahren durch die Staatsanwaltschaft ist oft sehr schwierig, zumal es eine fachspezifische Staatsanwaltschaft nicht gibt, bliebe aber immer noch möglich. Die SVP wirft der Linken im Rat und der Regierung vor, wirtschaftsfeindlich zu sein. Auch die FDP zeigt sich skeptisch und fordert, Umweltdelikte über bessere Aufklärung einerseits und Bestrafung der Verantwortlichen auf dem Strafrechtswege andererseits wirksam zu bekämpfen. Auch die Mitte erachtet das Standesbegehren als ungeeignetes Mittel. In der Demokratie entscheidet die Mehrheit; somit wird das Standesbegehren abgelehnt. Der nächste Fall «Amcor» wird kommen.

- Ein weiteres Standesbegehren verlangt die Einschränkung des Verbandbeschwerderechts bei Energievorhaben. Die Regierung unterstützt das Vorhaben, obwohl sich das Volk gegen die Abschaffung des Verbandsbeschwerderechts mit einem Ja-Anteil von 66% ausgesprochen hat. Zudem zeigt ein Blick in die Statistik, dass die meisten Einsprachen von Privaten und nicht von den Schutzverbänden erfolgen. Die Bürgerlichen verschliessen sich diesen Tatsachen. Sieht so eine faktenbasierte Politik ist? Die grossen Fraktionen haben viele Jahre die Dekarbonisierung der Energie blockiert und machen jetzt die Schutzverbände zum Sündenbock. Das Standesbegehren wird überwiesen. Sollte dieses Anliegen auch in Bern Gehör finden, wird der Natur und dem Umweltschutz eine entscheidende Stimme entzogen. Ist dies im Sinne der Bevölkerung und im Sinne unserer Natur?

- Die Stromversorgung ist auch das Thema des nächsten Standesbegehren, welches von Kantonsrat Dobler, Elektroingenieur aus Oberuzwil, eingebracht wurde. Es beantragt, die Strommarktliberalisierung rückgängig zu machen. Dobler argumentiert, dass die Versorgungssicherheit nicht dem Markt überlassen werden kann, sondern dass es eine Bedarfs- und Kapazitätsplanungen und vor allem Investitionssicherheit für Stromunternehmen braucht. Nur so kann aus seiner Sicht die Energiewende funktionieren und die Bevölkerung auch künftig sicher und einigermassen günstig mit Strom versorgt werden. Die Meinungen entsprechen nicht dem bekannten Links-Rechts-Denken. So ist die SP für das Standesbegehen, die Grünen nicht. Die Ratsmehrheit ist der Meinung, dass sich das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen lässt und beerdigt das Anliegen, welches grundsätzlich viel Sympathien geniesst.

- Das Begehren der SVP stellt die Flüchtlingskonvention von 1951 zur Disposition und verlangt, dass Asylanträge grundsätzlich in den Herkunfts-oder Nachbarländern der Gesuchsteller eingereicht werden müssen. Auch wenn die Situation an den Grenzen angespannt ist und die Bekämpfung der Schlepperorganisationen von allen als wichtig anerkannt wird, lehnt der Rat doch klar den Vorstoss ab. Es wäre ein schwieriges internationales Zeichen, wenn sich die Schweiz als Gründungsort des Roten Kreuzes und mit seiner humanitären Tradition als treibende Kraft für die Lockerung der Flüchtlingskonvention «profilieren» würde.

- Ein weiteres Standesbegehren, eingereicht von den Grünen, verlangt, in Anlehnung an die Gesetzgebung im Kanton Glarus, den Einsatz von fossilen Energieträgern für Wärme im Wohnbereich bei Neubauten und bei Wärmeerzeugerersatz zu verbieten, ausser in begründeten Härtefällen. St. Gallen will es nicht – somit bleiben Ölheizungen auch zukünftig bei Neubauten möglich.

Der erste Sessionstag neigt sich zu Ende. Obwohl auch 2023 die Gletscher überdurchschnittlich stark geschmolzen sind, die Temperaturen neue Höchstwerte erreichten, Waldbrände und Überflutungen in vielen Regionen der Nordhalbkugel verheerende Schäden anrichteten und der Artenschwund in der Schweiz ungebremst weitergeht, hat der Rat systematisch gegen Umweltanliegen gestimmt. Eine ernüchternde Bilanz.

Franziska Cavelti Häller, Kantonsrätin SG, GLP